Sexistisch smart sein? m(

Mittlerweile wird jeder Rotz in einer binären Logik geschlechtsspezifisch vermarktet. Vom Taschentuch bis zum Werkzeugkoffer. Und in einer zwangszweigeschlechtlichen Welt liegt es auch nahe, dass besonders geschlechtlich aufgeladenen Gebrauchsgegenstände, wie der Rasierer dazu gehören, auch wenn er für alle, die ihn benutzen auf die selbe Art und Weise funktioniert. Wer wundert sich schon noch darüber, dass „Männerrasierer“ in kalten, metallischen Farben und martialischen Aufmachungen verkauft werden und „Frauenrasierer“ in weichen Formen und Pasteltönen direkt daneben hängen? Obwohl es ein und dasselbe Ding ist.

Meine Hand wanderte aber mit einem lauten Klatsch, gegen meine Stirn, als ich den Blog des Nassrasiererabodienstes „Morning Glory“ sah. Die Geschäftsidee ist durchaus nett: einen Ge- und Verbrauchsgegenstand (Nassrasierer und Klingen) im Abo anbieten und günstiger verkaufen als vergleichbare Klingen im Laden kosten. „Sei smart.“ ist der Unternehmensclaim und meint damit: Geld sparen und nicht zur Drogerie laufen müssen. Und das hat sich erstmal so verlockend angehört, dass ich fast schon so ein Abo abgeschlossen hätte. Bis ich ein wenig durch das Blog von Morning Glory scrollte und u.a. dies sah:

Warum Zeit verschwenden zwischen Wurzelgemüse und Windelpaketen? Supermärkte sind ein Albtraum! Kreischende Kinder, Pärchen, die sich über die Cornflake-Sorte streiten und dann noch Rasierklingen, die abgeschlossen in einer lächerlichen Glasvitrine stehen – neben den Tampons natürlich. Hor-ror.

In der Zeit könnte man doch so gut hochalkoholische, aber harmlos aussehende Schirmchen-Drinks an gut gebaute Barbesucherinnen ausgeben und geduldig die Wirkung abwarten! Das ganze natürlich mit aalglatter Gesichtshaut, weil Rasierklingen geliefert bekommen

Abgesehen davon, dass ich die „kreischenden Kinder“ im Zweifelsfall selbst dabei habe (Väter sind offenbar auch keine Zielgruppe für Rasierer, obwohl manchmal Kinder den Rasierwunsch verstärken), geht dieses Geschlechterbild ja wirklich überhaupt nicht klar. Wer Lust auf „Bier aufmachen, Öl wechseln oder, eh, arbeiten“ hat, mag sich angesprochen fühlen. Ich nicht.

Ehrlich fand ich die Antwort auf meinen Tweet, die die Kackscheiße des eigenen Marketings weder abstritt noch verharmloste (was ich erwartet hätte), sondern nahe legte, ich solle doch einfach den Sexismus ignorieren und trotzdem kaufen:

Nein, danke. Smart sein geht anders. Auch wenn ich dabei drauf zahle und zur Drogerie latschen muss und – OMG – dort Kinder treffe und Tampons sehen muss.

My little Tocos… Auf Twitter.

Tocotronic twittert. Über den Newsletter und ihre Webseite ließ die Band verlauten:

die Vögel verstummen, der Wind steht still, die Dachse schnuppern schon und die Schläfer in der stillen Erde hören auf zu schlummern:
Es passiert was! Doch wir lassen Euch nicht alleine. Bitte folgt
@99_Thesen auf Twitter.
Seltsam, aber so steht es geschrieben.

Und wahrscheinlich hängt es ein ganz kleines bisschen damit zusammen, dass seit 1999 keine Band mehr Platz in meinem Herz/Musikgeschmack gefunden hat, wie Tocotronic (und damit, dass ich Twitter gerne nutze): aber ich habe mir ewig gewünscht, auch Tocotronic dort zu finden.

Nun. Ganz so ist es nicht. Meine These: Auf @99_Thesen werden wohl in den nächsten Tagen noch 98 Tweets kommen. Einer pro Tag. Und dann ist der 25. Januar 2013 und wir können endlich das neue Album „Wie wir leben wollen“ kaufen. Keine Replies, keine Zurückgefollowe, keine Interaktion. Schade. Der Release ist für meinen Geschmack viiiiiiel zu spät. Und auf die Thesen bin ich zwar gespannt, ob sie die Wartezeit so arg verkürzen weiß ich auch nicht. Und wir bleiben Empfänger_innen. Vielleicht bin ich hinsichtlich der Frage, wie Twitter genutzt werden sollte auch ein bisschen zu strukturkonservativ. Eine interessante Marketingidee bleiben die 99 Thesen in jedem Fall, auch wenn sie allein stehend noch nicht mal mehr besonders hübsch zum retweeten sind. Aber wir sollten den Inhalten selbst eine Chance geben.

Pinkie Pie springt vor FreudeDiese erste These macht mir doch ein ganz winzig kleines bisschen Hoffnung, dass irgendwann in ferner aber nicht ungreifbarer Zukunft ein anderer Tocotronic-related Wunsch von mir in Erfüllung gehen könnte:

Aber das wäre wahrscheinlich dann doch zu schön.